In der Ruhe liegt das Craft!

O´zapft is – 500 Jahre Reinheitsgebot neu interpretiert
Von Mario Bohrmann

4.000 Jahre alte Bierrezepte liegen in Keilschrift vor, in Babylon kannte man bereits 20 verschiedene Biere, von denen acht aus reinem Emmer (Zweikorn), acht weitere aus reiner Gerste und vier aus einem Getreidegemisch hergestellt wurden. Man kannte bereits Dünnbier, feines weißes Bier, rotes Bier, Schwarzbier und „Prima-Bier“, einer Art Premiumprodukt, dessen Export bis nach Ägypten reichte.

Ein Kernpunkt und Problem der Braukunst ist neben der Haltbarmachung auch die Filtrierung. Auch damals schon war jede Bieramphore oder sonstiges Behältnis mit einem Bodensatz an Hefe und Schwebteilchen gesegnet, und man benutzte Trinkröhrchen wie einen heutigen Strohhalm, um die festen Rückstände des Biergebräus zu „umtrinken“. Bildliche Darstellungen babylonischer Biertrinker belegen dieses Trinkverhalten.

Klosterbier und Klosterschänken

Auch in Deutschland ist die Braukunst mindestens seit 800 v. Chr. belegt und bereits die alten Germanen riefen zum maßvollen Genuss auf. So lautete eine Trinkregel aus der Edda, der alt-isländischen Sammlung von Liedern und Sagen: „Nicht klebe am Becher, trinke Bier mit Maß!“

Die erste öffentlich bekannte Brauerei- und Schankerlaubnis erhielt dann das Benediktinerkloster Weihenstephan um 1040. Und überhaupt hatten die Mönche und Klöster, was das Brauen angeht, sowohl die Mittel als auch die Macht, hier Quantität und Qualität zu liefern. Und sie waren dabei äußerst experimentierfreudig.

Wer weiß schon, ob das Rotkäppchen nicht in psychedelischer Laune nach dem Genuss eines Biers aus Fliegenpilzsud ihre Horrorgeschichten vom bösen Wolf erfand? Bereits Hildegard von Bingen braute ordentlich was zusammen. Bilsenkraut, eine psychoaktiv wirkende Pflanze, aber auch Hanfblüten, wie Hopfen ein haltbar machendes Gewächs mit Bitterstoffen aus der gleichen Pflanzenfamilie, waren Bestandteil diverser Biere, die aphrodisierend, euphorisierend oder sedierend wirken konnten.

Vor allem in den Klöstern versammelte sich das Wissen um die Brenn- und Braukunst. Die geistigen Zentren hatten neben den Mitteln auch den Durst – und das neugierige Interesse. Andererseits war das Schnapsbrennen oder Bierbrauen nur eine weitere Form der Lebensmittelverwertung und Haltbarmachung, sei es von Getreide oder Früchten, die man zur Erntezeit im Überfluss hatte. Und sie nicht anders verwerten konnte, da im Sommer die Hitze sie verderben ließ oder, im Fall des Getreides, Fäulnis, Schimmel oder Mäusefraß im Winter die Vorräte bedrohten.

So wandelte man gefährdete Lebensmittel lieber in haltbares Gebäck, in Brot oder Bier um. Und so manche vergessene Brotsuppe vergor zu Bier und legte womöglich die Grundlagen der Brautechnik durch zufällig erkannte, chemische Prozesse.

Das erste Lebensmittelgesetz

Im April 1516 trat der Bayerische Landständetag unter Vorsitz von Herzog Wilhelm IV. in Ingolstadt zusammen. Dieses Gremium billigte die vom Herzog vorgelegte Vorschrift – und machte sie damit für ganz Bayern verbindlich –, dass zur Herstellung von Bier nur Gerstenmalz, Hopfen und Wasser verwendet werden dürften. Von der Rolle der Hefe wusste man noch nichts. Dennoch ist der Grundtext kontinuierlich in neueren Gesetzen fortgeschrieben worden, deren Geltungsbereich sich immer weiter ausdehnte. Deutsches Bier muss in der Bundesrepublik Deutschland laut Gesetz auch heute noch ausschließlich aus Malz, Hopfen, Hefe und Wasser hergestellt werden. Damit ist das Reinheitsgebot von 1516 die älteste, noch heute gültige Lebensmittelgesetzgebung der Welt. Man sprach damit zugleich ein Verbot aus, denn alle möglichen anderen Kräuter, die man damals zum Würzen verwendete, waren nun tabu. Manche davon waren ausgesprochen giftig und geeignet, Halluzinationen bei den Biertrinkern zu erzeugen. Ochsengalle, Wacholder, Schlehe, Eichenrinde, Wermut, Kümmel, Anis, Lorbeer, Schafgarbe, Stechapfel, Enzian, Rosmarin, Rainfarn, Johanniskraut, Fichtenspäne, Kiefernwurzeln und auch Bilsenkraut konnten enthalten sein. Nun hatte man klare Linien. Es ging dabei nicht wirklich nur um die Gesundheit der Bevölkerung, sondern auch um die Bemessung der Steuern. Bis heute werden Biersteuern nach dem Malzzuckergehalt, der Stammwürze, erhoben – nicht nach dem Alkoholgehalt.

In der Ruhe liegt das Craft

Kommen wir wieder zurück nach Wiesbaden, wo die glorreichen Zeiten von Großbrauereien spätestens mit dem Abriss der Germania-Brauerei ein Ende fanden. Der Verdrängungswettbewerb und das billige Bier der industriellen Braubetriebe ließ nur noch wenig Raum für kleine Brauer, wenn sie nicht Besonderes boten oder für den eigenen Brauereiausschank produzierten. 1989 erfüllte sich der damals in Wiesbaden dominierende Bäcker Budecker einen Traum und baute sich seine eigene kleine Brauerei mit angeschlossener Gaststätte in Mainz-Kastel. Das „Brauhaus Castel“ war geboren und ging 2001 in die Hände der Frankfurter Gastronomiefamilie Sonne über, die mit eigenem Braumeister bis heute ihr naturtrübes Bier vor Ort produziert. Sie besuchten wir genauso wie das bekannte Eisgrub in Mainz. Beide produzieren untergäriges Bier. Am meisten gelernt haben wir jedoch bei Daniel Benker und Holger Erbe, die in einer früheren Metzgerei in Medenbach jeden Samstag ihrer Brauleidenschaft frönen und die „Wiesbadener Braumanufaktur“ gegründet haben. Und das nicht aus Gewinnerzielungsabsicht – hauptberuflich sind sie als Informatiker gut ausgelastet –, sondern aus der Freude am selbst gebrauten Bier mit richtigem Geschmack.

Solche Kleinstbrauereien haben für ihre Produkte den Begriff „Craft-Beer“ aus den USA übernommen. Er steht für handwerklich gebrautes Bier in eher kleinen Einheiten. Die Craft-Beer-Brauer verbindet meist mehr mit ihrem Produkt als nur das Streben nach hohen Absatzzahlen: Sie sind nicht selten Individualisten, Querdenker und Grenzgänger, die historische Biersorten wieder aufleben lassen, neu interpretieren oder durch Hinzufügen ausgefallener Zutaten mit einer eigenen Note versehen. Vor allem wollen sie dem Industriebier etwas entgegensetzen, und Holger Erbe bekennt, dass ihn noch kein Industrie-Pils geschmacklich überzeugen konnte. Die Biere der Braumanufaktur werden allesamt obergärig gebraut und auch deshalb als Ale bezeichnet. Pale Ale, IPA (Indian Pale Ale, ein frühes Exportbier, da es mehr Alkohol und Zucker hatte und dadurch länger haltbar war) und Amber Ale sind klangvolle Namen für Biere, die in Medenbach von Hand in Flaschen verfüllt werden. Wir begleiteten die Craft-Beer-Brauer an einem Samstag beim Bierbrauen und haben viel gelernt.

Der Brauer macht die WĂĽrze, die Hefe macht das Bier

Die Braukunst an sich lässt unzählige Spielarten zu, solange denn die Ausgangsstoffe passen. So lassen sich im Prinzip alle Getreidesorten vergären. Das Wichtigste ist das Vorhandensein von umwandelbarer Stärke beziehungsweise Zucker, da nur dieser von Hefe in Alkohol umgewandelt werden kann.

Das Malz und der Sud

Das Malz, es kann aus Gerste, Weizen, Roggen und jeder anderen Getreideart gewonnen werden, ist vorgekeimtes und wieder gedörrtes Getreide. Bei dem Keimvorgang werden Enzyme aktiviert und gebildet, die während des Bierbrauens ähnlich wie in der Whiskeyherstellung für den Stärke- und Eiweißabbau notwendig sind. Auch wird so bereits im Korn ein Teil der Stärke in Mehrfachzucker, hier vor allem Maltose, den Malzzucker, umgewandelt. Die angekeimten Körner werden dann getrocknet, gedarrt und in verschiedenen Graden auch geröstet. Dauer und Temperatur des Darrens beeinflussen Farbe und Aroma des Malzes und des daraus gebrauten Bieres. Dunkle Biere entstehen vor allem durch stark geröstetes Malz, Helles und Pils durch lediglich getrocknetes, noch sehr helles Getreide. Braugerste und Brauweizen zeichnen sich durch einen besonders hohen Stärkegehalt und möglichst wenig Eiweiß aus. Durch das Mälzen und Trocknen wird das Malz auch lagerungsfähig und für die Weiterverwendung geschrotet oder vermahlen. In möglichst reines und bei Pils auch weiches Wasser gegeben, wird es zur Maische und durch schonendes Erhitzen zum Sud. Hier nun wandelt sich die Stärke in Malzzucker um. Nun wird es in den sogenannten Läuterbottich gepumpt, wobei die festen Maischebestandteile aufgefangen und der Sud, nun Würze genannt, zurück in den Sudkessel gegeben wird.

Die WĂĽrze und der Hopfen

Das Resultat des „Abläuterns“ ist ein bernsteinfarbenes Zuckerwasser. Diese sogenannte Würze ist für den Werdegang und für den Geschmack des Bieres sehr bedeutsam, sie wird anschließend zusammen mit dem Hopfen gekocht. Auch die Alkoholstärke wird bereits durch den im Wasser enthaltenen Anteil an Malz bestimmt. Mehr Anteil bedeutet mehr Stammwürze und somit mehr Zucker, der in Alkohol umgewandelt werden kann. Den Hopfen gibt es als unbearbeitete, getrocknete Dolden, als gepresste Pellets oder als Hopfenextrakt, mit dem vornehmlich Großbrauereien arbeiten. Bitterstoffe sind allen Hopfensorten gemein, jedoch wird in Aroma- und Bitterhopfen unterschieden, und es ergeben sich weitere zahllose Kombinationsmöglichkeiten, um einem Bier eine besondere Note zu verleihen. Das Kochen und die Zusammensetzung der Würze ist somit der entscheidendste Prozess, mit dem der Bierbrauer das spätere Ergebnis beeinflussen kann. Craft-Beer-Brauer verwenden zusätzlich meist die Nachhopfung beziehungsweise Kalthopfung. Hier wird dem bereits fertig gegärten Bier Hopfen hinzugegeben, der aber, da nicht erneut gekocht, keine Bitterstoffe überträgt, sondern nur Aromen. Sie produzieren deutlich aufwendiger, bieten mehr Geschmacksaromen und sind dadurch auch deutlich teurer. Wer saufen will greift hier sicher nicht zu. Aber es entwickelt sich gerade eine beeindruckende neue Vielfalt, die sich auch durch oft künstlerisch gestaltete Etiketten und Namen wie „Emmerbier“ und „Doldensud“ auszeichnet.

Die Hefe und die Gärung

Ab jetzt, nachdem die Würze auf Angärtemperatur heruntergekühlt wurde, übernimmt die Hefe den Job. Die Art der Hefe bestimmt auch den weiteren Gärprozess. Unter- und obergärige Hefen haben verschiedene Arbeitstemperaturen und werden auch für verschiedene Biersorten eingesetzt. Obergäriges Brauen war die Urform, denn diese Hefen, die bei Temperaturen zwischen 15 und 20 Grad Celsius ihre umwandelnde Wirkung entfalten, sind schlichtweg in der Luft vorhanden und konnten schon durch offenes Stehenlassen der Würze, ohne eigenes Zutun, den Gärprozess in Gang setzen. Obergärige Hefen arbeiten an der Oberfläche des Bieres. Untergäriges Bier wird dagegen von einer anderen Hefeart, die sich auf dem Boden absetzt und erst im späten Mittelalter entdeckt wurde, erzeugt. Sie arbeitet bei Temperaturen zwischen 4 und 9 Grad Celsius. Gerste wird grundsätzlich nur für untergärige Biere verendet, etwa alle Pilssorten und Helles, während Weizen- und Altbiere, genauso wie Kölsch und alle als „Ale“ bezeichneten Biere durch obergärige Hefe entstehen. Beide Hefen wandeln durch Gärung den Zucker der Würze in Wärme, Kohlensäure und Alkohol um. Bei den höheren Temperaturen des obergärigen Bieres läuft dieser Prozess deutlich schneller ab als im Kühlkeller, er ist jedoch auch anfälliger für Verunreinigungen. So entsteht aus der Würze das „Jungbier“. Es kommt zur Lagerung in Gärfässer, wobei der restliche Zucker zu Kohlensäure und Alkohol vergärt. In Reifefässern, nun luftdicht abgeschlossen, wird das Jungbier weitere vier bis sechs Wochen gelagert, bevor es abgefüllt und verkauft werden kann.

Naturtrüb als Qualitätsmerkmal

Die meisten Craft-Beer-Brauer filtern ihre Biere nicht, allein durch Sedimentierung in den Reifefässern wird erreicht, dass sich Schwebstoffe am Boden absetzen. Dazu gehören die Hefe sowie alle in Bier gelösten Stoffe. Dadurch erhält das Bier beim Abfüllen seine naturtrübe bis fast klare Konsistenz. Ein kristallklares bis leuchtendes Bier, so wie man es vom deutschen Pils her kennt, entsteht ausschließlich durch Filtration. Hierbei wird das Bier durch Filter gepumpt und die Trubstoffe (hier spricht man nicht von Trübstoffen) herausgefiltert. Dazu bedient sich die Industrie auch chemischer Hilfsmittel: Durch die Zugabe von Polyvinylpolypyrrolidon (PVPP), einem Flüssigpolymer, werden Trubstoffe gebunden und können dann mechanisch herausgefiltert werden. Jedoch bleibt immer ein „technisch unvermeidbarer“ Rest dieses Klärmittels im Bier. Solange sich dies weder auf Gesundheit, Geruch oder Geschmack des Bieres auswirkt ist dies gemäß Reinheitsgebot in Ordnung.

FĂĽr Craft-Beer-Brauer ist dies in der Regel unakzeptabel. Denn bei der Filtration bleibt etwas Essenzielles im Filter zurĂĽck: der Geschmack. Und darum geht es schlieĂźlich.

Schaumkrone

Die Schaumkrone entsteht durch im Bier verbliebene Eiweißanteile. Diese werden, je nach Intensität der aufsprudelnden Kohlensäure, von den Bläschen auf dem Weg nach oben mitgerissen. Eiweißmoleküle legen sich dabei wie eine dünne Haut um die Kohlensäure und können sich mehr oder weniger gut verbinden. Die enthaltene Kohlensäure, die Eiweißanteile und die verwendete Malzsorte beeinflussen nicht nur die Menge des Schaums, sondern auch dessen Stabilität.

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