Der WEISSE RING wurde 1976 als Hilfsorganisation fĂŒr Opfer von Straftaten und deren Familien von „Fernseh-Fahnder“ Eduard Zimmermann mitbegrĂŒndet. Er unterhĂ€lt in ganz Deutschland rund 420 Anlaufstellen, die von mehr als 3.000 ehrenamtlichen Helfern getragen werden. Die AuĂenstelle Biebrich betreut neben ganz Wiesbaden auch den Rheingau-Taunus-Kreis und ist die einzige mit eigenem BeratungsbĂŒro. Von Mario Bohrmann
Seit der jetzt 62-jĂ€hrige Kriminaloberkommissar a.D. Rudi Glas vor zehn Jahren die AuĂenstelle des WeiĂen Rings in Wiesbaden ĂŒbernommen hat, geht es dort richtig voran. Sein Team von mittlerweile 15 Helfern betreut im Jahr rund 300 FĂ€lle und Opfer von KriminalitĂ€t und Gewalt. UnbĂŒrokratisch, mit dem Herzen und viel persönlichem Beistand â denn oft ist dieser ĂŒber Jahre nötig.
Als Polizeibeamter musste sich Rudi Glas vor allem mit den TĂ€tern befassen. Ob selbst als Zeuge bei Gericht wie auch ĂŒber die Wahrnehmung aus der Presseberichterstattung erhielt er immer mehr den Eindruck, dass die Opfer von Straftaten die âĂrmsten der Armenâ sind, sagt Glas. Opfer erfahren viel zu wenig Aufmerksamkeit, werden in den belastenden Prozessen allzu hĂ€ufig alleine gelassen. Das spiegelt auch das Leitmotiv des WeiĂen Rings wider: âWenn alle den Verbrecher jagen, wer bleibt dann eigentlich beim Opfer?“ Entsprechend rĂŒckt auch lilienjournal in diesem Artikel die Opfer in den Fokus. Nicht die TĂ€ter spielen in diesem Beitrag eine Rolle, sondern ihre Taten.
Normalerweise arbeitet der WEISSE RING vor allem aus KostengrĂŒnden ohne eigene BĂŒros und berĂ€t an ihn herantretende KriminalitĂ€tsopfer zu Hause oder an einem öffentlichen Ort, etwa in einem CafĂ©. Und angesichts der Zunahme von FĂ€llen hĂ€uslicher Gewalt dann und wann auch im Frauenhaus, wobei Rudi Glas auch klar macht, dass es keineswegs so ist, das gewalttĂ€tige Ăbergriffe ausschlieĂlich von MĂ€nnerseite kommen. Dass es gerade bei Sexualdelikten gegenĂŒber Frauen wichtig ist, dass auch die Betreuung durch eine weibliche Person ĂŒbernommen wird, verstehe sich von selbst, sagt Glas.
Belastende Prozesse und Betreuung vor Gericht
Der WEISSE RING hilft nicht nur Opfern, so möglich, mit kleinen BetrĂ€gen die Folgen abzumildern. Er organisiert auĂerdem Beratungstermine bei Psychologen, sofern gewĂŒnscht. Vor allem aber unterstĂŒtzt die Wiesbadener Beratungsstelle zahlreiche Opfer und Hinterbliebene von Schwerverbrechen durch persönliche Betreuung wĂ€hrend der oft quĂ€lend langen Prozesstage vor Gericht.
Ob nach dem brutalen Mord an der schwangeren Jolin durch ihren Ex-Freund Anfang 2013 oder dem Totschlag an der ebenfalls 22-jĂ€hrigen Vanessa wenige Monate spĂ€ter â auf dem TrĂ€nkweg am Neroberg durch mehrfaches Ăberfahren durch deren Ex-Freund: Rudi Glas oder ein anderes Teammitglied war bei den Verhandlungen dabei und blieb ĂŒber alle Prozesstage an der Seite der Hinterbliebenen. Auch wenn Opfer wie Hinterbliebene hĂ€ufig durch einen Nebenklagevertreter begleitet werden: AnwĂ€lte und Richter mĂŒssen sich auf die Verfahren konzentrieren. Eine eher psychische Betreuung können sie nicht leisten. Opfern und Hinterbliebenen genĂŒgt es jedoch meist bereits, wenn einfach jemand fĂŒr sie da ist, und nur fĂŒr sie, und bei besonders belastenden Momenten der Beweisaufnahme auch mal die Hand hĂ€lt oder sie tröstend in den Arm nimmt, besonders nach quĂ€lenden Stunden im selben Raum mit dem selten reuigen TĂ€ter. Gerade Eltern, die Ihr Kind auf besonders drastische Weise von jetzt auf gleich verloren haben, sind oft nicht in der Lage, sich gegenseitig zu trösten, brauchen UnterstĂŒtzung, um nicht daran zu zerbrechen.
Kleine GlĂŒcksmomente
Der WEISSE RING hilft aber auch finanziell, wenn Not am Mann oder der Frau ist, und das auch in Bereichen, ĂŒber die selten berichtet wird. Wie im Fall einer alleinerziehenden Mutter mit sehr wenig Geld. Einen Tag vor Weihnachten wurde ihr die Geldbörse gestohlen, mit Ihrem gesamten Restgeld fĂŒr den Monat darin, das auch fĂŒr die WeihnachtseinkĂ€ufe gedacht war. Ăber Kollegen aus dem Revier erfuhr Rudi Glas davon und ging von sich aus auf die Betroffene zu. Ihr Verlust von wenigen hundert Euro wurde durch den WEISSEN RING noch am Weihnachtstag in bar ausgeglichen und sie konnte ihren Kindern doch noch Geschenke kaufen. Die junge Mutter zeigte sich ĂŒberwĂ€ltigt von der schnellen Hilfe, freute sich und war sehr dankbar. Weihnachtsfest gerettet! Solche GlĂŒcksmomente sind fĂŒr das Team eine emotional ergreifende und bereichernde Angelegenheit, schildert Rudi Glas: âSo etwas gibt uns allen Kraft zum Weitermachen. Weil es zeigt, wie wichtig unsere Arbeit immer wieder ist.â
Aktuelle Verfahren und UnterstĂŒtzung
Derzeit beschĂ€ftigt das Team ein besonders drastisches Verbrechen. Es geschah kurz vor Weihnachten, unweit der Beratungsstelle. Am Morgen des 20. Dezember vorigen Jahres betrat ein RĂ€uber den kleinen Kiosk und Tabakwarenladen eines Ehepaares in Biebrich, erschoss die 59-jĂ€hrige Kioskbesitzerin und verletzte deren Mann (63) und ihren Neffen (21) schwer. Ein sinnloser Mord, der von sehr vielen Biebrichern, die das Ehepaar teils seit Jahrzehnten kannten, ĂŒber Wochen betrauert wurde. Und noch wird. Sichtbare Zeichen der groĂen Anteilnahme Ende Dezember: Mahnwachen und hunderte aufgestellter Kerzen und Adventsgestecke um den kleinen Laden herum. Das Entsetzen ĂŒber diese Tat, zumal der Raubmörder nicht einmal Beute machen konnte, war ĂŒber die Grenzen der Stadt hinaus riesengroĂ und kam in ganz Deutschland auf manche Titelseite, da der schwer verletzte Neffe als FuĂball-Profi beim Zweitligaverein Dynamo Dresden spielt. Er war nur zufĂ€llig bei seiner Familie in Wiesbaden, half im Kiosk seiner Tante aus.
Der Kiosk-Mord von Biebrich und ein Macheten-Angriff in Hochheim
Den TĂ€ter, einen jungen Mann aus der Nachbarschaft, erwischte man schnell, im Laufe des Jahres soll ihm der Prozess gemacht werden. Aber welches Leid der Ehemann ertragen musste und immer noch muss, neben der gefĂ€hrlichen Schussverletzung, ist kaum in Worte zu fassen. Der Kiosk wurde zunĂ€chst tagelang zur Spurensicherung von der Polizei beschlagnahmt, an ein Weitermachen war fĂŒr den Witwer ohnehin nicht zu denken, verletzungsbedingt wie auch seelisch. Seine vor seinen Augen getötete Frau sank in seine Arme, bevor er selbst angeschossen wurde. Auch jetzt, drei Monate nach der Tat, fĂ€llt es ihm schwer, den mittlerweile verkauften Laden wieder zu betreten. Der Kiosk sei durch den neuen EigentĂŒmer innen wie auĂen vollstĂ€ndig umgestaltet worden, das erleichtere es, die bösen Erinnerungen zu verdrĂ€ngen, erzĂ€hlt Rudi Glas, der den traumatisierten Mann seit der Tat unterstĂŒtzt und bereits im Krankenhaus begleitet hat. Hier war das gesamte Repertoire dessen, was Ehrenamt leisten kann, gefragt. Denn den Tod der Frau zu begreifen, selbst schwer verletzt auf der Intensivstation liegend, sei schon kaum zu ertragen. Aber totale Verzweiflung auch wegen der eigenen finanziellen Lage breitete sich bald aus. Nicht nur, dass das GeschĂ€ft und Konten ĂŒber die verstorbene Frau angemeldet waren, das einzige Einkommen war schlagartig und dauerhaft abhanden gekommen. Der WEISSE RING sprang hier in die Presche und half dem Opfer auch, sich um die FormalitĂ€ten zu kĂŒmmern, von der Bestattung bis zur Beantragung der Rente und dem Verkauf des Kiosks.
Vor Gericht werden Verfahren durch den WeiĂen Ring seelsorgerisch begleitet. Wie der âMacheten-Angriff“ in Hochheim, der aktuell vor dem Landgericht verhandelt wird und bei dem auch unser Foto entstand.
Hier sieht man Rudi Glas und einen anderen Mitarbeiter seines Teams, Peter Holzbaur, neben dem Opfer. Bernd Glöckner ist mit seiner Namensnennung einverstanden. Der 72-JĂ€hrige ist ein augenscheinlich gefasster Mensch, angesichts dessen, was er erleben musste. âWie soll man das beschreiben?â Der junge TĂ€ter hatte ihn am frĂŒhen Morgen des 2. August 2016 verfolgt und in einer Mischung aus Drogen- und Alkoholrausch immer und immer wieder mit einer Machete auf den Rentner eingeschlagen. Drastisch schilderte Bernd Glöckner schon zum Prozessauftakt die Todesangst, die er in der Frankfurter StraĂe in Hochheim durchlebt hat, nur weil er einen Randalierer und Dieb, der sich an Autos zu schaffen machte, ansprach. Ăber mehrere hundert Meter musste er vor dem Angreifer fliehen, schlug Haken, versuchte sich zu verstecken. Und immer wieder wurde mit einer 50 Zentimeter langen Machete auf ihn eingeschlagen. Weil er schĂŒtzend seine HĂ€nde ĂŒber seinen Kopf hielt, wurden ihm mehrere Finger teilweise oder ganz abgetrennt. BeidhĂ€ndig trĂ€gt er nun Schienen, kann einige Finger noch immer kaum bewegen. Doch dass er sich so zu schĂŒtzen versuchte, rettete ihm letztlich wohl das Leben. Die Wucht der heftigen SchlĂ€ge hatten offene SchĂ€deldecke und zahlreiche schwere Einschnitte in Gesicht und Körper zur Folge. WĂ€re der Rettungswagen nicht sehr schnell gekommen, Bernd Glöckner wĂ€re wohl verblutet. Und auch nach vielen Operationen und monatelanger Behandlung braucht der Rentner weiterhin medizinische Betreuung.
FĂŒr Bernd Glöckner wird es nie mehr so sein wie zuvor. Er berichtet nach dem Prozesstag von seinen Verletzungen, und irgendwann, zunĂ€chst kaum merklich, sieht man, wie in diesem bislang fast fröhlichen und sehr freundlichen Mann wieder die Bilder aufsteigen, seine Augen feucht zu werden beginnen. Als GegenĂŒber möchte man vor Scham versinken, weil man dieses Leid so gut nachfĂŒhlen und es doch nicht ungeschehen machen kann. Aber nur, wenn man sich darauf einlĂ€sst. Wie es die Helfer vom WeiĂen Ring auch hier an jedem Prozesstag fĂŒr Bernd Glöckner tun.
Gesponserte Beratungsstelle
Durch seine bereits zuvor ausgefĂŒllten EhrenĂ€mter und gute Beziehungen in die Stadtpolitik â er war auch langjĂ€hrig Stadtverordneter in Wiesbaden â gelang Rudi Glas 2010 ein Kunstgriff. Als er erfuhr, dass ein kleines LadengeschĂ€ft in der DiltheystraĂe, zwischen dem BĂŒro des Volleyball Clubs Wiesbaden und dem „Blauen Salon“, dem „Rat-Haus“ des ehemaligen Wiesbadener OberbĂŒrgermeisters Achim Exner, leer stand, trat er an den Vermieter heran. âUnd so hat es sich ergeben, dass wir den Laden ĂŒbernehmen konnten und die âGemeinnĂŒtzige Bau- und Siedlungsgenossenschaft Wiesbaden 1950 (GENO50)â ihn sogar komplett sponsert“, freut er sich noch heute. Als gemeinnĂŒtziger Verein kann der WEISSE RING durch Spendenbescheinigung den Mietausfall fĂŒr die GENO50 weitgehend kompensieren, ohne eigenes Geld in die Hand nehmen zu mĂŒssen, das so viel besser bei den Opfern aufgehoben ist. Die Beratungsstelle verteilt sich auf ein kleines BĂŒro mit KĂŒchenzeile und einen groĂen Beratungsraum ĂŒber insgesamt 40 Quadratmeter. Auch die Einrichtung und Ausstattung wurden rein ĂŒber Sach- und Geldspenden finanziert.
Der WEISSE RING kommt insgesamt mit sehr wenig hauptamtlichem Personal und somit sehr geringen Verwaltungskosten aus, auch die nahegelegene LandesgeschĂ€ftsstelle in Mainz (GrĂŒndungssitz) erleichtern Kommunikation wie Zusammenarbeit fĂŒr Wiesbaden sehr, schildert Glas. Der Verein finanziert sich ausschlieĂlich durch MitgliedsbeitrĂ€ge, Spenden, Stiftungen, NachlĂ€sse und nimmt keine öffentlichen ZuschĂŒsse in Anspruch.
Ein wesentlicher Teil der Finanzmittel kommt auch durch Zuweisungen von GeldbuĂen durch Gerichte zum WEISSEN RING. Wenngleich diese Mittel aus allen Bereichen von Strafverfahren kommen können, vom Verkehrsdelikt ĂŒber Betrug bis hin zu Kapitalverbrechen, werden indirekt wenigstens hierbei die Opfer durch TĂ€ter teilweise entschĂ€digt. Insoweit schlieĂt sich hier ein âweiĂer Ringâ im besten Sinne.
Der Zwiespalt zwischen rechtlich Möglichem und dessen Grenzen, wo eben das Ehrenamt einspringen muss, werden hier und systembedingt mehr als deutlich. Wo der Staat versagt bzw. schlichtweg nicht mehr machen kann, sind die Leute vom WEISSEN RING mehr als nur ein Rettungsanker. Wenngleich auch ihre Mittel endlich sind und sie nicht jedem Opfer auch finanziell helfen können.
Der Weisse Ring in Wiesbaden:
AuĂenstellenleitung: Rudolf-Lothar Glas
DiltheystraĂe 3
65203 Wiesbaden
Telefon: 0611/86170
Fax: 0611/8804581
E-Mail: weisser-ring-wiesbaden@t-online.de
Website: wiesbaden.hessen.weisser-ring.de
Bild vom sogenannten âMacheten-Prozessâ vor Gericht im MĂ€rz 2017:
V.r.n.l. Rudi Glas vom WEISSEN RING, das schwer verletzte und traumatisierte Opfer Bernd Glöckner, die AnwÀltin der Nebenklage, Staatsanwaltschaft.