Auf Bergkäsestation…

…Von einem, der auszog, Senner zu werden

Die Brüder Jan und Till Biebricher sind waschechte Wiesbadener. Doch Jan ist nun schon mehr als drei Jahrzehnte im Allgäu heimisch, bewirtschaftet dort seine Alpe und engagiert sich gesellschaftlich und an einer intakten Natur orientiert. Hauptberuflich erzeugt er besten Bergkäse und andere Milchprodukte in einer genossenschaftlich organisierten Sennerei in Steibis bei Oberstaufen, unweit der österreichischen Grenze. Einer der vielen Abnehmer ist Jans jüngerer Bruder. Till holt für seine „Bergkäsestation“ an der Dotzheimer Straße seit elf Jahren Allgäuer und andere Käseköstlichkeiten hinab ins Tal nach Wiesbaden. Wie lebt es sich auf der Alpe, wie läuft die Arbeit in der Sennerei? lilienjournal wollte es genauer wissen – und machte ein Schnupper-Praktikum im Allgäu. Von Mario Bohrmann


Spät am Abend in Steibis angekommen, nach siebenstündiger Zugfahrt dank zweier verspäteter Anschlüsse, bespreche ich gleich mit Wahl-Allgäuer Jan Biebricher den Ablauf der Schichtbegleitung in der Sennerei, und wird mir klar: Wer Käse machen will, muss in aller Hergottsfrüh‘ raus! Da zeigt sich Jan unerbittlich. Ab 5.30 Uhr wird vorbereitet, denn ab 6 Uhr bringen bereits die Landwirte ihre gerade erst gemolkene Rohmilch zur Sennerei im Ortskern der Gemeinde. So treffen wir am frühen Morgen auf meist best gelaunte Bauern jeglichen Alters, darunter auch einige Frauen, die mit Pkw und Anhänger, Pick-up oder vom Bauernhof gegenüber per Handkarren die Milch in klassischen Milchkannen oder kleinen Edelstahltanks vorfahren. Neben dem Eingang zur Käserei steht eine große Milchwaage, mit der die abgepumpte Menge gewogen, dann notiert wird. Die Milch wird danach direkt in einen Rohmilchtank gepumpt – für die Verarbeitung am nächsten Tag. In der rundum gefliesten Produktionshalle ruhen im großen Kupferkessel derweil rund 2.400 Liter Milch vom Vortag. Daraus entsteht binnen weniger Stunden Käse und wird in seine Form gebracht.

Rahm abschöpfen und Butter vom Fass

Zuvor wurde „der Rahm abgeschöpft“. Diese dünne Schicht fetthaltiger Moleküle, die sich bei Rohmilch nach oben als Rahm/Sahne absetzt, da sie noch nicht wie in der Frischmilch „homogenisiert“, also die Fettkügelchen zwecks besserer Vermischung in der Milch zerschlagen wurden. Der gesammelte (und später auch der aus der Molke gewonnene) Rahm, das wichtigste Nebenprodukt der Käseproduktion, wird zweimal pro Woche zu „Fassbutter“ verarbeitet – mit maschineller Unterstützung. In einem rotierenden Butterfertiger aus Edelstahl wird der Rahm zu Butter geschlagen und von der „Buttermilch“ getrennt, die, in Gläsern abgefüllt, ebenso wie die mild gesäuerte Sauerrahmbutter im Sennerei-Laden angeboten wird – und oft direkt ausverkauft ist.

In der Rohmilchverarbeitung, also weder pasteurisierter noch homogenisierter und somit aufbereiteter „Frischmilch“, werden besonders hohe Anforderungen an die Hygiene gestellt. So säubern auch an meinem Praktikumstag (wie alle hier bin ich inklusive schickem Haarnetz eingekleidet von Kopf bis Fuß) Mitarbeiter Leitungen, ständig wird während des Produktionsprozesses mit heißem Wasser gespült. Trotz der, für eine kleine Sennerei modernen Ausstattung, wird doch das meiste von Hand gemacht.

Beste Milch gibt besten Käse

Da die Prozesse zur Käseherstellung zwischen 30 und knapp über 50 Grad ablaufen, herrschen in der Produktionshalle auch kaum geringer Temperaturen: hochsommerlich, bei hoher Luftfeuchtikeit. Eine durchaus schweißtreibende Arbeit ist dieses alte Handwerk – hier allerdings mit echter Win-Win-Situation, vor allem für die neun Milchbauern, die als Genossenschaft ihre eigene Sennerei betreiben und somit für ihre Milch auch einen angemessenen Erlös erzielen. Derzeit können sie sich mit rund 50 Cent pro Liter deutlich mehr als das Doppelte dessen auszahlen, dass die großen Molkereien bieten (würden). Die von der Genossenschaft angestellten Mitarbeiter alleine vier in der Produktion, sind ebenso Teil ihres Kapitals wie die Qualität ihrer Milch. In Halbhöhenlage ist die Beweidung oder reine Heufütterung der Garant für eine mineralreiche und gesunde Milch. Das Verfüttern von Silage ist tabu! Fermentiertes Heu kann Pilzsporen in die Milch eintragen, die bei pasteurisierter (abgetöteter) Milch unproblematisch sind, aber bei der Rohmilchverarbeitung eine ganze Charge Käse zerstören können. Gewisse Bakterien sind nötig, Pilze jedoch sind tabu.

Käsebruch und Kalkulation

In der Bergkäserei wird ein großes Sortiment an Käsen je nach Bedarf hergestellt. Allgäuer Emmentaler wie auch Bergkäse dürfen nur aus Rohmilch hergestellt werden, erfahre ich. Aber auch Weichkäse, Tilsiter und verschiedene Schnitt- und Kräuterkäse werden hier produziert, wie das optisch vielleicht attraktivste Produkt, der Wildkräuterkäse. Nicht nur am Praktikumsmorgen ist bei der Produktion von Schnittlauchkäse, Alpkäse und Bergkäse die reiche Erfahrung der Käser gefragt. Um das Lager stets gefüllt zu halten und die Sonderaufträge erfüllen zu können gilt es auch vorausschauend die Reifezeit einzurechnen, die bei Schnittkäse zwischen zehn und zwölf Wochen, bei Bergkäse auch bei bis zu zwei Jahren liegen kann (dann hat der Bergkäse eine Parmesan ähnliche Konsistenz, beschreibt Jan, sei aber deutlich aromatischer).

Alle Käse werden im ersten Produktionsschritt aus der gleichen, gerade zu Käsebruch verarbeiteten Rohmilch erzeugt. Dass zwei Stunden zuvor zugegebene Lab und Milchkulturen bewirken die Eiweißgerinnung und trennen die Milch in Molke und Käse. Dieser Prozess dickt Milch ein, ohne sie sauer zu machen. Die milchsäureeigenen Bakterien unterstützen die Umwandlung von Laktose als Milchzucker in Milchsäure. Interessant: Gereifter Bergkäse ist auf diesem schonenden Wege praktisch laktosefrei. Im Kupferkessel, der wie beim Bierbrauen die besten Eigenschaften dafür aufweist, da Kupfer antibakteriell wirkt und gut Wärme leitet, setzt sich der Frischkäse als homogene Masse über der Molke ab.

LAB

Das Lab ist unabdingbar, um aus Milch Käse zu machen ohne das sie sauer wird. Sie ist ein Gemisch aus den Enzymen Chymosin und Pepsin und wird aus dem Labmagen junger Wiederkäuer gewonnen. Tierisches Lab stammt aus der Magenschleimhaut des vierten Magens junger Kälber, denn in dieser Zeit, im noch Milch trinkenden Alter, sind im Magen genug der Enzyme vorhanden, die zum Spalten des Milcheiweißes Kasein benötigt werden.

Man kann Lab auch bio-chemisch oder aus genetisch manipulierten Enzymen herstellen. Zu Zeiten der BSE-Krise waren zunächst alle tierischen Rinderprodukte auf dem Prüftstand, auch tierisches Lab. Jan hat in dieser Zeit keine schlechten Erfahrungen mit den biologischen Alternativen gemacht. Doch die Bergkäserei Steibis setzt traditionell Kälberlab für ihre Käseproduktion ein.

Von Harfen und Laiben

Nun kommt die Käseharfe zum Einsatz. Ein vertikales Metallgitter, in einem beachtlichen Edelstahlgewinde als Rührstab eingehängt, wird langsam in Rotation versetzt. Sie durchschneidet und bricht den Käse auf in immer kleinere Stücke, nun auch wieder vermischt mit der Molke. Dieser Vorgang dauert einige Zeit. Jan bereitet inzwischen alles vor, um Schnittlauchkäse herzustellen. Die Produktion von Schnittkäsen und Alpkäse (Raclette-ähnlich) ist Jans Spiel- wie Spezialgebiet. Er weiß aus Erfahrung und Augenmaß, wie viele mit einem Handsieb geschöpfte Portionen von Käsebruch er in die drei bereitstehenden Milchkannen füllen muss, damit sie später je etwa einen Laib von sieben Kilogramm Käse ergeben. Kräuter verwendet die Bergkäserei grundsätzlich nur in getrockneter Form von zertifizierten Händlern. Zu groß wäre sonst oder bei Verwendung frischer Kräuter die Gefahr von Verunreinigung, erläutert Jan. Zudem muss jede Zugabe und deren Herkunft aufwändig dokumentiert werden.

Mit Augenmaß und viel Gefühl

Jan gibt nun in jede der mit Bruch und Molke gleichmäßig gefüllten Milchkannen einen Becher mit getrockneten Schnittlauch, auch hier nach Augenmaß und immer mit ruhigen, fließenden Bewegungen. Jan weiß genau was er tut, wie er es tut und warum. Das Geheimnis hier handwerklich einen guten Kräuterkäse herzustellen liegt vor allem in der gleichmäßigen Verteilung der Kräuterbeigabe. Gerade getrocknete Kräuter wie der Schnittlauch würden in dieser Verbindung schnell aufschwimmen, sie sollen sich aber später gut verteilt im Käse wiederfinden. Hier arbeitet Jan trickreich und hat bereits die Formen mit Sieben versehen und bereitgestellt, in die der Käsebruch nebst Molke und Kräutern nun gefüllt wird. Zuvor hat Jan mit der Hand die Kräuter in der Kanne vermischt und verwirbelt, und gießt diese nun, noch als flüssige Masse in der Kanne rotierend, in einem großen Strahl in die Form. Die Mischung geht genau bis zum Rand und sofort beginnt die Molke unten und seitlich abzufließen. Der Käsebruch, nun gleichmäßig vermischt mit Schnittlauch, setzt sich ab und sieht aus wie körniger Frischkäse – und ist es auch. Ein weiteres Sieb wird darüber gelegt und mit einem gleichmäßig runden Gewicht von 10 Kilogramm beschwert. Später wird der nun schon in zusammenhängende Form gebrachte Schnittkäse, in einem reinen Weiß mit Schnittlauch von allen Seiten gleichmäßig gesprenkelt sich darbietend, gewendet und von der anderen Seite beschwert. Alles in reiner Handarbeit.

Bergkäse und Allgäuer Emmentaler

Für die Produktion der großen Laibe, die eigentliche Tagesarbeit neben den Kleinserien anderer Käsesorten, nutzt die Bergkäserei seit einigen Jahren einen hydraulischen Presstisch, der die Arbeit zusammen mit dem ausgeklügelten Leitungs- und Tanksystem erheblich erleichtert. Je drei große Laibe Allgäuer Emmentaler (je ca. 80 Kilogramm) können gleichzeitig produziert werden, oder bis zu zehn Bergkäse (von je ca. 30 Kilogramm). Mit unterschiedlichem Druck werden die über das Leitungssystem zuvor mit Käsebruch und Molke gleichmäßig befüllten Formen bepresst. Der Presstisch kann sich dabei um 180 Grad drehen, so wird der Druck umgekehrt, und die Molke läuft stetig aus den Formen in das Auffangbecken. Auch die aufgefangene Molke wird später mit einer Zentrifuge von noch verbliebenem Rahm getrennt (für die Butterherstellung). Einige Bauern holen die Molke wieder ab, um sie an ihre Schweine zu verfüttern. In Steibis wird die Milch wie auch sonst überschüssige Molke komplett verwertet.

Ab jetzt, nach der Pressung, arbeitet vor allem die Zeit. Diese ersten wie auch alle weiteren Arbeitsschritte gelten im engeren Sinne für alle hier produzierten Käse. Dabei entwickelt jeder Käse seinen Geschmack allein durch die verwendete Rohmilch, seine Größe und Art der Pressung, der Länge des Salzbades danach und der Reifung und Pflege im Keller – sowie deren Temperatur. Der Tilsiter Käse erhält seine feine Lochstruktur (Schlitzlochung) einzig durch eine sehr lockere Pressung. Es verbleibt etwas Raum zwischen dem Käsebruch, der später austrocknet und feine Poren bildet.

Rotschmiere, Rinde und Reifegrade

Das Salzbad (Salzgehalt rund 20 Prozent) der frisch produzierten Käse dauert je nach Größe und Art unterschiedlich lange. Es sorgt für die Verfestigung der Außenhaut, entzieht dem Käse Wasser und reichert ihn zugleich mit Salz an, das auch antibakteriell wirkt und den Käse haltbar macht. Nach mehreren Tagen und einigen Umdrehungen im Salzbad kann der Käse nun seinen vorletzten Weg antreten: in den Reife- oder Gärkeller. Hier trennen sich auch die Wege von Emmentaler und den anderen Hart- und Schnittkäsen. Der Allgäuer Emmentaler wie der Allgäuer Bergkäse dürfen gemäß einer Verordnung nur so genannt werden, wenn sie aus Rohmilch entstanden sind und ihre Mindestreifezeit erreicht haben. Beim Emmentaler spielt die Propionsäure die wichtigste Rolle, deshalb hat diese Käsesorte auch ihren eigenen Gärkeller. Denn die Säure „arbeitet“ erst oberhalb 20 Grad Celsius und startet einen gewünschten Vergärungsprozess, der Laktat ebenso in Milchsäure umwandelt wie der Bergkäse. Propionsäurebakterien lösen aber im Käse zugleich eine Fermentierung aus, da sie sich an Fettmoleküle anheften und das entstehende Kohlenstoffdioxid jene Blasen erzeugt, die für die berühmten Löcher im Schweizer Käse sorgen. Gase dehnen sich aus und strecken ihre Umgebung im Käselaib. Heute gelten winzigste Heupartikel, die in der Milch gelöst waren, als hauptverantwortlich für die Anordnung der Blasen.

Beim Bergkäse dagegen sind solche Gärungsprozesse unerwünscht und werden durch Kühlung unterbunden. So reifen alle Hart- und Schnittkäse bei etwa 13 Grad Celsius und sehr hoher Luftfeuchtigkeit von außen nach innen. Jeder Laib wird zudem zwei- bis dreimal in der Woche von Hand mit der sogenannten „Rotschmiere“ behandelt und gebürstet. Lediglich für die kleinsten Laibe von etwa sieben Kilogramm Gewicht gibt es eine kleine, portable Maschine, die das Bürsten übernimmt. Gewendet und eingesetzt werden sie auch hier von Hand. Ein Mitarbeiter ist alleine den halben Tag damit beschäftigt, die Käselaibe im Lager zu wenden und zu pflegen. Man kennt sich. Und gerade den alten Bergkäsen sieht man ihre Lebens- und Wendeerfahrung an. Bis zu 300 mal wurden sie geschmiert und umgedreht, alle liegen auf unbehandelten Fichtenbrettern die atmungsaktiv auch überschüssiges Salz und Flüssigkeit aufnehmen. Die Sennerei musste auch hier längst anbauen, um weitere Kellerräume und Lagerflächen zu haben. Gär- und Kühlkeller sind die Tresore der Bergkäserei Steibis.

Die Rotschmierebakterien werden mit Salzlake vermischt immer wieder dünn aufgetragen und eingebürstet und bilden mit der Zeit die bekannte orange-rötliche Naturrinde. Ein gewünschtes Bakterium, das zugleich andere Keime draußen halten soll. Diese Rinde ist eigentlich essbar, bei älteren und lange gereiften Bergkäsen, die unzählige Male in die Hand genommen wurden, kann jedoch niemand absolut versichern, dass sich nicht doch wenige unerwünschte Erreger mit angesiedelt haben. Die berühmt-berüchtigten Listerien finden sich in der Natur zwar auch andernorts, mitunter auch an Erdbeeren auf den Feldern. Selbst der Käse-Fachmann empfiehlt deshalb nicht nur Schwangeren, die Rinde zumindest dünn zu entfernen.

Win-Win für alle – Der genossenschaftliche Betrieb der Sennerei Steibis

Neun Landwirte aus Steibis betreiben die 1907 gegründete Sennereigenossenschaft. Zwischen sechs und 30 Kühe halten die Milchbauern, bis auf einen alle im Nebenerwerb und liefern täglich bis zu 2.500 Liter Rohmilch an. Die Genossenschaft ermöglicht es, ihre Milch für einen adäquaten Preis zu verkaufen und die komplette Produktionskette einer Molkerei in ihrem kleinen Eigenbetrieb darzustellen. Bis vor 20 Jahren war die Sennerei verpachtet, die Landwirte lieferten lediglich die Milch. Dann erkannten die Genossenschaft-Mitglieder das Potenzial, modernisierten den Betrieb und stellten eigene Mitarbeiter ein. Der Wiesbadener Jan Biebricher ist dort Käser der ersten Stunde. Seine Erfahrung ist unverzichtbar in dem kleinen Betrieb und wird hochgeschätzt. Sein Kollege Florian leitet die Bergkäserei. Als Molkereitechniker hat er nach seiner Ausbildung und Erfahrungen in einem Großbetrieb die Chance ergriffen, hier noch handwerklich arbeiten zu können – und mit neuen Produkten zu experimentieren.

Mehrere Teilzeit-Mitarbeiter helfen bei der Annahme der Milch am Morgen oder Abend, bei der Käseproduktion, wie auch vor allem der Reifung und „Schmierung“ der bis zu zwei Jahre alten Käselaibe. Gerade letzteres ist schwerste Handarbeit, wiegen die Käse in ihrer Urform doch bis zu 80 Kilogramm (Emmentaler), die meisten Bergkäse immer noch um die 30 Kilogramm. Der direkt angeschlossene Laden beschäftigt weitere Stammmitarbeiter. Touristen wie Einheimischen bietet das „Kässtüble“ auch einen Ort zum Verweilen und direkten Genuss der Produkte. Neu ist der 24-Stunden-Service: An einem gekühlten Automaten vor dem Eingang können abgepackt verschiedene Käse und Milchprodukte, auch Fassbutter gekauft werden. Auf Wunsch wird der Käse auch zugeschickt. Vorteil für Wiesbadener: Die Bergkäsestation von Till Biebricher bietet immer eine gute Auswahl aus Steibis an.

Bergkaesestation

 

Ein Allgäuer mit Leib und Seele

Ich bin aber nicht nur nach Steibis gefahren, um etwas über das Käsemachen zu lernen. Jan ist ein ungewöhnlicher Mensch, der wohl mehr Allgäuer geworden ist, als es manch Gebürtiger sein kann. Es waren familiäre Verbindungen und einige Zufälle, durch die Jans Großvater und Vater schon in den 1960er Jahren eine Alpe im Allgäu übernahmen; und damit den Grundstein legten für das, was ihn zwanzig Jahre später so unwiderstehlich anziehen sollte.

Die Familie Biebricher, berufsbedingt an Wiesbaden gebunden, nutzte die wenig Komfort bietende, stets kalte und mit viel Arbeit verbundene Alpe nebst Viehstall zunächst mehr als Ferienort. Doch für Jan wurde es mehr und mehr zum besonderen Erlebnis, wenn er im Sommer und bei anderen Gelegenheiten in den Bergen war:

„Für mich war es immer das Größte, die Schumpen (weibliche Jungrinder im Allgäu, sonst Färsen genannt) der Nachbarn und Pächter zu betreuen.“

Jan hat sich schon als Kind in die Landschaft, den Duft von Heu, die sanft blickenden Augen gemütlich grasender Kühe und das einfache wie naturverbundene Leben auf der Alpe verliebt – und mehr als nur einen Draht zur Natur entwickelt Mitte der 80er-Jahre stand er vor der Frage: Mache ich den Magister in Politikwissenschaft oder folge ich meiner Leidenschaft? Letztlich fiel ihm die Antwort leicht: Jan brach seine Zelte in Wiesbaden und sein Studium in Frankfurt ab und zog dauerhaft ins Allgäu. Als Aussteiger betrachtet er sich aber keineswegs. Eher als Einsteiger in ein neues Projekt.

Von Alpsommern und der Viescheide

Seine Alpe bewirtschaftet Jan nun schon seit 30 Jahren. Er hat eine neue und massive Stallung gebaut, deren Dachkonstruktion jede Schneehöhe und mittelstarke Lawine erträgt und etwaige Schneemassen zugleich vor dem Hauptgebäude zur Seite drängt. Hier ist alles, auch in seiner Bescheidenheit, wohldurchdacht. Die Alpe wurde wohnlicher ausgebaut, es gibt nun auch gewissen Luxus: Solaranlage, Festnetztelefon, Anschluss an das Stromnetz mit selbst verlegtem Erdkabel, warmes und fließend Wasser – das war nicht immer so auf der „Mittelhädrich“, auch „Stui Häderle“ genannt.

Übersetzt ist es die „Alpe am Stein“ und sie ist direkt vor einem Bergkamm an der Grenze zu Österreich gelegen, dem Hädrich. Dort geht Jan seinem Hobby und seiner Leidenschaft nach, als Senner in den Voralpen wie auch als Käser in Steibis. Letzteres im Hauptberuf, auf der Alpe ist er unterdessen nur im Sommer regelmäßig anzutreffen.

Was als Eigenbegriff weder Alm noch Berghütte ist, sondern im Allgäu für eine Hoch–, Mittel- oder Talalpe steht, ist der Betrieb eines Viehstalls nebst Weiden für eigenes oder „Pensionsvieh“ in wirklich abgelegenem Gebiet. Nur während des Alpsommers von Anfang Juni bis Mitte September, für rund 100 Tage, ist hier oben weitgehende Schneefreiheit gegeben und saftiges Grün vorhanden, soweit das Auge reicht. Hier kommt man mit Mähdreschern ohnehin nicht weiter und die Weiden der Berghänge und Talausläufer werden von den Kühen mit Wonne abgegrast. Sie sind, sozusagen, auf Kur.

Milchvieh ist hier eher selten dabei, dass können sich nur größere Betriebe mit eigenem Bestand erlauben, da der Aufwand, frei laufende Kühe zweimal am Tag zum Melken in den Stall zu führen, schlicht nicht rentabel ist.

Im Frühsommer werden die Pensionstiere von verschiedenen Bauern aus dem Allgäu oder dem nahen Österreich mit LKW auf die Alpen um Steibis verbracht, um dort einen fruchtbaren Sommer zu verbringen. Im Frühherbst werden sie vielerorts gemeinsam heruntergetrieben, auch bei Steibis, zur „Viehscheid“ in Oberstaufen. Ein großes Volksfest wie hierzulande Karneval – und wie man so hört, mit Verlaub, wird auch hier mächtig getrunken, aber eher keine Milch. Romantisches Relikt und Touristenmagnet zugleich.

Obgleich hier im Tal eigentlich nur die Tiere versammelt und von ihren Besitzern erkannt und abgeholt werden. Es ist der große „Viehscheid“ – teils bunt auf den Alpen zusammengewürfelte Herden, die immer auch erst ihre Rangkämpfe untereinander ausmachen mussten, werden nun wieder getrennt. Die meisten Kühe und Schumpen im Allgäu haben zumindest in ihren ersten ein, zwei Lebensjahre den Alpsommer auf der Weide erlebt. Doch „Auf der Alm, da gibt’s koa Sünd“ ist relativ. Zumindest im Tal wird die Landwirtschaft auch im Allgäu eher intensiv als extensiv geführt. Mehr Gülle wird ausgebracht als früher und die Wiesen werden vielerorts öfter gemäht. Weil man das Heu braucht.

Hier oben, die „Mittelhädrich“ liegt auf etwa 1300 Metern, ist die Welt noch in relativer Ordnung. Ungedüngte, beste Gräser, reich an Wildkäutern, sind gerade für das Jungvieh ein Turbo für die Entwicklung. Zudem gewöhnen sich die Tiere an den Kontakt mit Menschen und Hunden.

Wandel und Rückbesinnung

So sehr es Jan liebt, auch seine Alpe zur „Sömmerung“ anzubieten und diesen Sommer wieder Pensionsvieh aus Österreich um sie herum grasen kann, so sehr betrachtet er auch die Entwicklung in der Zucht der Tiere und ihre Auswirkungen auf den Boden mit Sorge. Das klassische „Allgäuer Braunvieh“, dass man neben Fleckvieh und anderen Rassen überwiegend auf den Alpen und Weiden bis ins Tal sieht, ist nicht mehr die eher kleinere und geländegängige Kuh mit mittlerer Milchleistung. Amerikanische Sorten wurden eingekreuzt, werden deutlich schwerer und geben mehr Milch und mehr Fleisch. Sie bringen jedoch auch andere Probleme mit sich, bringen mehr Gewicht pro Hufzentimeter auf die Fläche und verdichten den Boden mehr als es früher der Fall war. Jan wünscht sich hier Rückbesinnung. Etwas weniger ist oft so viel mehr…

Jan macht sich erkennbar weitgehendere Gedanken und bringt sich nicht nur in der Sennerei in Steibis und bei den Nachbarn mit Rat und Tat ein. Vor einigen Jahren hat er ein anspruchsvolles Ehrenamt im Landkreis übernommen und zeichnet als Jagdvorsteher für die Jagdgenossenschaft Aach verantwortlich. Rund 4.300 Hektar Wald- und Weidefläche um Oberstaufen herum werden von ihm betreut, obgleich Jan selbst nicht einmal Jäger ist. Auch auf sein Betreiben hin hat die Jagdgenossenschaft gegen viele Widerstände und mit viel Überzeugungsarbeit alle privaten Pachtverträge gekündigt oder angepasst und so dafür gesorgt, dass angestellte Jäger für das nötige Gleichgewicht zwischen Wald und Wild in allen Wäldern sorgen, und nicht vereinzelt Reviere die Tiere überreich für die Jagd aus Spaß anfüttern. Was bei manchen Betroffenen viel Kritik auslöste zeigt jedoch langsam Wirkung und dient nicht der Ausrottung von Wildtieren, sondern dem Erhalt ihres Lebensraumes. Damit sich wieder Bergmischwälder (Tanne, Buche, Fichte) verjüngen können, bevor sie von zuviel Wildverbiss ihres Potenzials beraubt werden. Denn nicht nur die Voralpen brauchen diesen natürlichen Lawinenschutz gegen sonst weiter steigende Erosion.

Urwälder und Klimawandel

Wissenschaftliche Erkenntnisse, eigene Beobachtungen, Zuhören und die sich so ergebenden Vorschläge für die Praxis versucht Jan diplomatisch, aber auch mit Durchsetzungskraft zu vermitteln. Und er findet immer wieder Verbündete, weil es logisch und schlüssig ist, und er erkennbar keine persönlichen Interessen verfolgt.

Die Biodiversität lebt manchmal auch vom Eingriff, wo sie durch Ausrottung natürlicher Feinde aus dem Gleichgewicht geraten ist. Zweifelsohne begreift Jan die Zusammenhänge und erlebt den Klimawandel auch vor der eigenen Haustür. Sein wunderbares Grundstück liegt auf einem recht ebenen Plateau direkt unterhalb eines Bergrückens, der mit Quellen und Schmelzwasser eigentlich reichlich gesegnet ist. Eigentlich.

Mehrere kleine Gebirgsbäche mäandrieren über die Ebene vor Jans Alpe. Doch immer weniger Schnee lässt sie immer früher fast verebben. Und unberechenbarerer Starkregen holt aus ihnen unvermittelt neue Wege heraus, wenn man sie nicht zuvor schon sieht und ihnen den Raum dazu lässt. Jan hat durch jahrzehntelange Beobachtung der Natur auch an dieser Stelle mit ihr zusammengearbeitet, statt zu versuchen, sie zu überlisten.

Man kennt sich – Vielfalt der Nachbarschaft
Erst vor kurzem hat er sich einen kleinen Traum erfüllt und eine neue Veranda gebaut, in einer Größe, die manches Reihenhaus als auskömmlichen Garten bezeichnet. Von hier überblickt man die meisten Weidebereiche und erst einige hundert Meter weiter sieht man das einzige andere Gebäude im gesamten Umfeld, die Alpe eines Hobby-Senners aus Österreich. Und sonst nur Bäume, Berge und saftiges Grün. Fast auf gleicher Höhe, jenseits eines kleinen, zur Stromversorgung angestauten Bergsees, liegt die am höchsten gelegene Schnappsbrennerei des Allgäus, Michels Kräuteralp in Hörmoos. Er baut Kräuter unterschiedlichster Arten an und verkauft die Pflanzen oder braut wirklich famose Schnäpse aus vielen heimischen Sorten, darunter einen Gin aus Alpkräutern und nicht zuletzt einen goldenen Enzianschnaps, eingelagert im Whiskeyfass. Die bewirtete Hörmoos-Alpe seines Bruders liegt direkt daneben. Freundschaftlich verbunden fühle ich mich auf diesem Abstecher direkt wohl und verkoste noch vor dem Frühstück einen Älpler-Absinth. Später erfahre ich noch eine ganz andere Geschichte, die einen früheren Wiesbadener Oberbürgermeister an dieser Stelle der Alpen ins Spiel bringt – und ihn in den Bergsee

Wiesbadener Verbindungen

Richtig deutlich wird mir das erst zurück in Wiesbaden. Nach zwei Tagen Exkursion im Allgäu, beim Käse machen, beim Buttern und auf der Alpe nimmt mich Jan Biebricher in seinem Fiat Panda Allrad, der sich mit seinen schmalen Reifen und geringem Gewicht auch bei Schnee und Eis besser kontrollieren lässt als die meisten SUV, an Pfingsten zurück nach Wiesbaden. Auch hier ist er unerbittlich. Diesmal geht‘s um 4.30 Uhr früh los. Auf LKW-freier Strecke kommen wir gut durch und früh in Wiesbaden an. Aus unseren Gesprächen habe ich erfahren, dass Wiesbadens langjähriger Oberbürgermeister Achim Exner ein alter Freund der Familie ist, bereits 1976 mit Jans Vater Klaus Biebricher auf der Alpe war, und seitdem dort regelmäßiger Gast sein sollte. Noch am gleichen Nachmittag sollte sich ein Kreis schließen.

Gipfeltreffen an der Bergkäsestation

Jan kam nur für eine Nacht zurück in die Heimat, auch um seine Mutter abzuholen, die den Alpsommer gerne mit ihm oben auf der Mittelhädrich verbringt. Achim Exner war nun durch eine Whats-App-Nachricht von mir gebrieft, das Jan da war und kam zum verabredeten Zeitpunkt hinzu. Umso größer war die Freude beim Treffen der Brüder Biebricher mit Achim Exner an Tills Bergkäsestation.

Während der ältere Jan früh ins Allgäu zog blieb Till in Wiesbaden und lernte Schreiner, was an seiner selbst gestalteten Bergkäsestation zu sehen ist. Den Gaumen-Schatz aus Steibis verkaufte er zunächst nebenbei, aus dem Keller heraus, an Freunde und Nachbarn. Vor elf Jahren öffnete er dann die Bergkäsestation. Und hier in der Dotzheimer Straße trafen wir uns an jenem Mittag. Mit Achim Exner, beiden Brüdern und Markus, einem Freund des Hauses, der nicht nur im Laden aushilft.

Angetrunkene Lebensretter

In der Runde erzählt Achim Exner von der besonderen Verbindung zur Familie Biebricher, vor allem zum 2003 verstorbenen Vater Klaus. Kennengelernt hatten sie sich in den 70er-Jahren, Klaus Biebricher leitete damals die Telefonzentrale im Rathaus, betreute sie technisch. Später wurde er zum Personalrat der Stadtverwaltung gewählt. Achim Exner bezeichnet ihn noch heute als besten Freund und größten Kritiker aus seiner Zeit als Sozialdezernent und Rathauschef.

So kam es 1982 zu einem besonderen Ereignis nah der Alpe der Familie Biebricher.

Es war eine private Geburtstagsfeier einer guten Freundin. Die meisten Gäste saßen schon in der Alpe, während Jan und Achim mit einer der letzten Bergbahnen hochkamen. Dichtes Schneetreiben vernebelte aber nicht nur den beiden Protagonisten die Sicht, durchaus auch angereichert mit dem ein oder anderen Schnaps und Bier auf dem Weg dahin.

Das galt aber auch für einen Schneeraupenfahrer, der sich zur gleichen Zeit auf den angestauten Bergsee bei Hörmoos verirre. Achim und Jan, bei schlechter Sicht und „kalt wie Sau“ auf dem Fußweg zur Feier, wunderten sich und ulkten zunächst über die orangenen Positionslichter an ungewohnter Stelle. Bis sie begriffen und aufs Eis eilten. Denn die Pistenraupe begann bereits im See zu versinken. Und der Fahrer machte keine Anstalten auszusteigen.

Als sie ihn erreichten, selbst schon hüfthoch im Eiswasser stehend, wollte er lieber untergehen. Denn er wusste ja, dass er Mist gebaut hat und dass es ein teurer Spaß wird. Und er war genauso wenig nüchtern wie seine Retter. Letztlich bat Achim Jan dem immer panischer werdenden Fahrer eins „in die Fresse“ zu geben, damit er Ruhe gebe und sich retten ließe. Und so geschah es, und alle fanden sich wenig später im Warmen und Trockenen ein und können dieser Tage wohl auch alle darüber schmunzeln. Und ein klein wenig stolz sein auf die Lebensrettung. Achim Exner freut sich diebisch beim Erzählen der Geschichte, dass zwei der Feuerwerksraketen, die er sich auf dem Weg zur Feier auf der Alpe um den Oberkörper geschnallt hatte, auch noch nach der feuchtfröhlichen Rettung abgefeuert werden konnten.

Manche Geschichten kann man einfach nicht erfinden. Aber wenn man sie findet, muss man sie aufschreiben.

LILIENTOUR – Haben Sie Lust bekommen auf das Allgäu? Wollen Sie uns zu Jans Alpe begleiten, die Kräuteralp besuchen und eine Sennerei-Führung erleben?

Vom 30. September bis 3. Oktober (Brückentag) nehmen wir bis zu 20 Leser mit und haben dafür alle Zimmer des Gästehauses Anna-Matt reserviert. Bei eigener Anreise (Fahrgemeinschaften unterstützen wir gerne) liegen die Kosten für drei Nächte pro Person bei ca. 150 Euro im Doppelzimmer mit Frühstück. Kurtaxe, Seilbahn und Nutzung vieler Einrichtungen sind bereits inklusive. Das genaue Programm stellen wir mit Ihnen je nach Witterung vor Ort zusammen. Oder Sie gehen einfach selbst auf Tour.

Anmeldungen bitte bis 20. August an redaktion@lilienjournal.de

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